Pinocchio
Bitter, bitter ist das Erwachsenwerden. Wer da mit kindlichem Gemüt, neugierig und unbedarft auf die Welt zugeht, wird böse Erfahrungen machen. Da sind Schmeichler und Betrüger wie Katze und Fuchs, ungerechte Schulmeister, feindliche Altersgenossen, die den Jungen mit der langen Nase nicht mitspielen lassen. Muss man sich da nicht manchmal wie ein ungelenker Holzklotz vorkommen?
Daniel Souliés Ballett "Pinocchio, Geschichte eines Holzjungen", das jetzt im Theaterspielplatz des Braunschweiger Staatstheaters uraufgeführt wurde, erzählt in wunderbar poetischen, einfallsreichen Bildern das Märchen von Carlo Collodi. Doch Soulié lässt auch die psychologische Geschichte eines wirklichen Jungen, der nicht ganz so ist wie die anderen und trotzdem erwachsen wird, durchscheinen.
Im dunklen Bauch des Wals fängt alles an. Gepetto (David Williams), der Holzschnitzer, erinnert sich. Großartig tanzt Thiago Junqueira Fazio die Geburt der Holzpuppe, die erst zusammengesackt auf dem Boden sitzt und durch Gepettos Hilfe beweglich wird. Schon da zeigt sich aber Pinocchios Eigenwilligkeit, wenn immer gerade die Gliedmaßen nach oben schnellen oder hervorfedern, an denen Gepetto nicht zieht. So kriegt der arme Vater schnell mal was ans Schienbein. Und hat er Pinocchio mit einem Ärmel in der Jacke, rutscht er beim zweiten aus dem ersten wieder raus. Solch Slapstick macht Spaß.
Gruseliger wird’s, wenn die Flammenhände der Schatten (Nathalie Nad-Abonji, Sascha Halbhuber) nach dem arglosen Pinocchio züngeln. Will ihn die langbeinige Grille (Llewelyn Malan) ihre geziert ausgreifenden Ballettschritte lehren, zappelt Pinocchio in Disco-Bewegungen dazu. Im Marionettentheater bringt er Colombine (Sabrina Bonneu) und Arlequin (Tiberiu Voicu) so in Schwung, dass sie straucheln. Als Pinocchio sie vom Fadenkreuz reißt, sinkt Colombine leblos zusammen. Nicht alle sind für die Freiheit geschaffen, und wer Gutes will, richtet manchmal Schlimmes an.
Und dann gibt es falsche Freunde: Katze (Yukie Koji) und Fuchs (Annett Gurtler) etwa, die in Schlafpositionen fallen, wenn Pinocchio sich ihnen nähert, aber hinterrücks sehr wache Aktivitäten entfalten, um ihn zu bestehlen. Anna Siegrot hat ihnen zu Schwanz und Pelzmützen barocke Intrigantentracht verpasst, setzt mit ihren einfallsreichen Kostümen im wandelbaren Walfisch-Bühnenbild schöne Akzente.
Auch Zirkus ist nicht bloß Spaß, sondern Dressur, die einen schnell die Peitsche des dicken Direktors (Tiago Manquinho) spüren lässt, wenn man nicht spurt. In der Spur gehen ist nun aber Pinocchios Sache nicht. Nicht aus überlegter, vorgefasster Anarchie, sondern aus natürlicher Lust am freien Spiel. Heißt Erwachsensein sich fügen?
Ganz zerstört bleibt Pinocchio in der Arena liegen. Da taucht als Schattenspiel sein anderes Ich auf, ein großer Junge, wie er auch sein will. Sehr schön entwickeln Fazio und Rory Stead aus spiegelbildlichen Bewegungen in allen Lagen die Bewusstwerdung der Holzpuppe. Pinocchio hat seine eigenen Erfahrungen gemacht, nun kann er zum Vater zurückkehren.
Imposant, wie die blaue Stoffbahn ihm gleich Flutwellen die Beine wegzieht. Im Walfischbauch trifft er Gepetto, gemeinsam flutschen sie ins Freie. Noch einmal dreht die Fee (Andrea Svobodová) im Rock aus glitzernden CDs ihre Pirouetten: Da hat Pinocchio seine hölzerne Nase nicht mehr, er ist ein Mensch mit geschmeidigen Bewegungen geworden. In Gepettos Koffer entdeckt er später die Nasenmaske und grinst wissend: War alles nur ein Spielwerk Gepettos, ein Utensil, mit dem er lernen sollte in der Welt.
Mit diesem Augenzwinkern enttarnt Soulié zuletzt die Pädagogik der Fabel. Wissend ist dieser Pinocchio vielleicht noch frecher als vorher. Mit vielfältigen Tanzstilen (ein paar Sprünge hätten aber gut getan), witzigen Details und einfühlsam auf Charakter gearbeiteten Figuren hat ihm Soulié ein schönes Stück bereitet. Rasender Applaus, allen voran für den unermüdlichen sympathischen Pinocchio Fazios
Braunschweiger Zeitung, Andreas Berger